Thérèse: 1. Oktober
Therese von Lisieux wurde als neuntes und letztes Kind ihrer Eltern am 2. Januar 1873 in Alençon (Normandie) geboren. Nach einer sehr glücklichen Kindheit im Schoß ihrer Familie wurde sie bereits im Alter von nur 4 1/2 Jahren durch den Tod ihrer Mutter aus ihrer Idealwelt herausgerissen. Dadurch veränderte sich schlagartig ihr kindliches Gemüt, sie wurde über die Maßen empfindlich. Zu ihrem inneren Gleichgewicht fand sie erst knapp zehn Jahre später in der Weihnacht 1886 zurück. Ihrer Gewissheit, zur Karmelitin berufen zu sein, die sie bereits vier Jahre zuvor in sich trug, wollte sie endgültig an Weihnachten 1887 entsprechen. Sie beabsichtigte, in das Karmelitinnenkloster ihrer Heimatstadt Lisieux einzutreten, was ihr dann auch nach Überwindung vielfacher Hindernisse schließlich am 9. April 1888 erlaubt wurde.
Im Karmel von Lisieux stieß sie von Anfang an auf Schwierigkeiten: In den ersten Jahren wurde sie von ihrer Priorin Mutter Gonzaga mit größter Strenge behandelt. Dazu kam, dass sie bei ihren Gebeten in völliger Trockenheit blieb und, was für sie den größten Schmerz bedeutete: Ihr Vater litt unter einer schweren Hirnarteriosklerose und ist schließlich in die Psychiatrie von Caen eingeliefert worden. Nach dem Tod ihres Vaters im Juli 1894 erlebte Therese wenige Monate ungetrübten Glücks. An Karfreitag 1896 machten sich die ersten Anzeichen von Tuberkulose bemerkbar, die Krankheit, an der sie schließlich auch starb. An dieser Krankheit litt Therese jedoch weit weniger als unter der sehr harten Prüfung ihres Glaubens, die an Ostern 1896 einsetzte und bis zum Ende ihres Lebens andauern sollte. Sie starb am 30. September 1897 im Alter von 24 Jahren.
Die geistliche Lehre der so genannten "kleinen" Therese, die allgemein unter dem Begriff "kleiner Weg" in die geistliche Literatur eingegangen ist, lässt sich wohl am prägnantesten mit den Begriffen "Kleinsein" und "Barmherzigkeit" umschreiben. In diesen beiden Termini besitzt man ein geeignetes Interpretationsinstrument, mit dessen Hilfe ihre geistliche Lehre erfasst und verständlich gemacht werden kann.
Der Begriff "Kleinsein" kann leicht missverstanden werden: es ist damit nicht die Haltung einer buckligen Demut gemeint, nach der man lernen sollte, sich widerspruchslos alles gefallen zu lassen, nie Widerstand zu leisten, sich von allen bevormunden und in seinem Lebensentwurf von anderen einschränken und bestimmen zu lassen. Dies alles hat mit dem "kleinen Weg" der "kleinen Therese" als dem Weg wahrer Demut nichts zu tun. Therese verstand unter dem Begriff "Kleinsein" nicht die Haltung des Sich-Duckens, vielmehr ging es ihr dabei vor allem um die Haltung der "geistlichen Armut". Damit meint sie die grundsätzliche Situation jedes Menschen angesichts der unendlichen Größe und Liebe Gottes: Der Mensch ist vor Gott in erster Linie "Empfangender" und nicht "Gebender", er steht letztlich vor ihm mit leeren Händen, ist also auf eine radikale Weise von ihm abhängig. Ausschließlich in diesem Sinne versteht sich Therese mehr und mehr als die "kleine", die "arme" Therese. Das heißt jedoch nicht, dass man nicht auch gute Eigenschaften, Tugenden besitzen könne, nur: auch diese machen für Therese die leeren Hände nicht voller, sie sind die in die Tat umgesetzten Geschenke Gottes an sie, die er ihr zu jedem Zeitpunkt auch wieder nehmen kann.
Dieser Begriff "Kleinsein" wird für sie zum grundlegenden Pfeiler ihrer ganzen geistlichen Lehre. In einem Brief vom 17. September 1896 an ihre Schwester Marie kommt wohl am deutlichsten ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass es gerade dieses von ihr angenommene Kleinsein, dieses Armsein an Tugenden und heroischen Werken, dieses Nichtbesitzen schöner Gefühle und großartiger Wünsche ist, was Gott an ihr gefällt: Ihre Armut ist ihr ganzer Reichtum. Aber nicht weniger klar ist für Therese, dass es nicht allein genügt, seine Armut als Mensch wahrzunehmen und anzunehmen, sondern, und das ist die eigentliche Schwierigkeit des kleinen Weges, einzuwilligen, vor Gott immer die Kleine, die Arme zu bleiben, allen Schein, allen "Glanz", alles "Großsein vor den Menschen" zu fliehen, ja immer kleiner zu werden, d.h. immer wahrhaftiger, immer einfacher.
Die "Barmherzigkeit" ist für Therese die Eigenschaft Gottes, die ihrem menschlichen Kleinsein, ihrer Armut genau entspricht: Jesus als der unendlich Barmherzige wird gleichsam wie ein Magnet von der Armut Thereses angezogen. Diese bewirkt, dass er sich zu ihr hinwenden kann, sie mit seiner liebenden Fülle überhäufen kann, da Therese ihm durch ihre Armut ermöglicht (nicht wie die "reichen" Menschen), seine barmherzige Liebe in diese Welt hineinzuverschenken, indem sie sich ihr mit ganzer Hingabe öffnet. In dem Maß jedoch, in dem Therese lernt, klein zu sein und immer mehr zu werden, in dem Maß kann die Liebe Gottes in sie einziehen und ihr "kleines" Herz in ein liebendes verwandeln. Thereses Wunsch, ihre Mitschwestern immer mehr zu lieben, wird auf diese Weise von Jesus erfüllt: sie liebt sie nicht mehr nur mit ihrer schwachen menschlichen Liebe, die sie in sich trägt, vielmehr gibt sie Jesus die Möglichkeit, immer mehr durch sie hindurch mit seiner göttlichen Liebe die Menschen zu lieben, ihnen die unendlichen Ströme seiner barmherzigen Liebe zu erschließen. Auf diese Weise erfüllt Therese jedoch umgekehrt auch den grenzenlosen Wunsch Jesu, von den Menschen mehr geliebt zu werden. In dem von ihr selbst am Dreifaltigkeitssonntag 1895 verfassten Weiheakt an die Barmherzige Liebe, erneuerte sie immer wieder diesen Tausch der Liebe, durch den sie nach und nach zu dem werden konnte, was ihr das Wichtigste in ihrem Leben werden sollte: Im Herzen der Kirche die Liebe zu sein.
Um ihren "kleinen Weg", der für alle Menschen nachvollziehbar sein soll, auch für alle möglichst verständlich machen zu können, erfindet sie folgendes Gleichnis (die geeignetste Weise für sie, ihre geistlichen Erfahrungen ins Wort zu heben): Sie stellt sich vor, ein kleines Kind zu sein (der Mensch), das am Fuß einer Treppe steht und immer wieder den Versuch unternimmt (Zeichen ihrer schwachen Liebe zu Jesus), die erste Stufe dieser Treppe zur Vollkommenheit zu erklimmen, was ihr jedoch, da sie als kleines Kind dazu nicht die Energie hat, niemals aus eigener Kraft gelingen wird. Sie sieht vertrauend auf ihre Mutter (Gott), die selbst auf der obersten Stufe dieser "Vollkommenheitstreppe" steht und solange ihrem Kind voller Mitleid zuschaut, bis sie schließlich, vom vergeblichen Mühen und dem unentwegten Vertrauen ihres Kindes überwältigt, ihrem mütterlichen Herzen folgt, sich zu ihrem kleinen Kind hinunterbeugt, es in ihre Arme nimmt und auf die oberste Stufe der Treppe hebt (die Liebe Gottes kann jetzt durch das Kind hindurchwirken).
Therese geht also nicht den mühsamen, asketischen Weg der Vollkommenheit (von einer Vollkommenheitsstufe zur nächsten), sondern den Weg der Armut vor Gott und der vertrauenden Liebe, die ihr auch die Kühnheit verleiht, sich rückhaltlos in die Arme Jesu zu werfen, der gekommen ist, nicht um die Gesunden zu retten, sondern die Kranken (Mk 2, 17).
An diesem Bild wird ein äußerst wichtiger Charakterzug Thereses deutlich: ihre unmittelbare, direkte, einfache, sehr persönliche, liebevolle Umgangsweise mit ihrem Gott, der für sie immer Jesus ist: mal als der selbst Kleingewordene, das Kind Jesus, mal als der Leidende, in dessen Antlitz sich für sie die absolute Liebe Gottes offenbart. Sie packt Jesus beim Herz, sie küsst ihn auf den "Mund" und nicht, wie in ihrer Zeit üblich, die "Füße", sie hat keine Angst vor ihm, sondern liebt ihn, da sie weiß, dass auch er sie mit grenzenloser Liebe liebt. Er schenkt sich ihr, ohne dass sie etwas dafür getan hat: es ist alles umsonst, er liebt, wen er lieben will. Diese geschenkte Liebe Jesu zu ihr ist für Therese so fundamental, dass sie nicht nur als das Geheimnis ihrer Berufung, sondern auch als der Kern ihres "kleinen Weges" bezeichnet werden darf. Es ist letztlich auch nichts anderes als dieses Bewusstsein, das geliebte Kind Gottes zu sein, das ihr schließlich eine unglaubliche Klarheit verleiht, den Mut, das "Verdrehte" beim Namen zu nennen und darauf die evangeliumsgemäße Antwort unbedingter, radikaler Liebe zu geben.
Durch die Prüfung ihres klaren Glaubens am Ende ihres Lebens wird Therese vor allem mit jenen solidarisch, die selbst nicht an Gott glauben können, die keine Hoffnung haben auf ein Weiterleben nach dem Tod. An die Stelle ihres Glaubens tritt zusehends die Liebe, die Therese als letzter und einziger Halt bleibt. Dadurch erweitert sich jedoch auch ihr Horizont: mehr und mehr sieht sie das Ziel ihres Lebens darin, die göttliche Liebe, die sie jetzt in sich trägt, nicht allein ihren Schwestern im Karmel zu schenken, sondern sie ausnahmslos zu allen Menschen zu bringen. Ihr "Arbeitsfeld" ist von da an die ganze Welt: Die Liebe soll von jedem Menschen geliebt werden, dazu fühlt sie sich gesandt, auch über ihren Tod hinaus.
Den Gedenktag feiern wir am 1. Oktober.
(Beitrag von Stephan Lütgemeier / Dipl. Theologe)